Malling-Hansens unnbekantes Werk - Die Mini-Schreibkugel

Von Dieter Eberwein, Schauenburg

 

 

Eine kleine bisher unbekannte Schreibkugel versetzt die Fachwelt ins Staunen und gibt Anlass zu diversen Spekulationen.

 

An einem sonnigen Tag im Mai 2006 trafen sich die Malling-Hansen-Freunde und -Nachfahren anlässlich der Gründung der Internationalen Malling-Hansen-Gesellschaft in Kopenhagen. Neben all den interessanten Vorträgen und Gesprächen gab es ein Ausstellungsobjekt, das alle Anwesenden bestaunten – eine komplett ausgearbeitete und funktionsfähige Schreibkugel in halber Größe (siehe Abb. 1). Diese Mini-Schreibkugel mit einem eigenartigen Papierträger hätte man neben den weiteren ausgestellten Schreibkugeln glatt übersehen können, passt sie doch in eine DIN A4-Klarsichthülle und wiegt gerade mal 1400 Gramm. Sie stand jedoch schnell im Mittelpunkt des Geschehens und gab Anlass zu diversen Spekulationen.

 

Handelt es sich hier um ein Patentmodell? Uwe Breker wartete sogleich mit einer Überraschung auf und präsentierte zwei frühe Patentmodelle der Schreibkugel. Diese wurden aber, wie bei Patentmodellen üblich, nicht in allen Details ausgearbeitet. Die Mini-Schreibkugel zeigte sich daneben wie eine vollwertige Schreibkugel, nur eben wesentlich kleiner.

 

War es ein Modell für Kinder? Malling-Hansen war schließlich Vater von 7 Kindern und zudem Direktor der Königlichen Taubstummen Schule in Kopenhagen. Überliefert sind seine wissenschaftlichen Untersuchungen zum Wachstum von Organismen – im Speziellen der Kinder. Malling-Hansen entwickelte ein neues Handalphabet für die Taubstummen und suchte nach jeglichen Erleichterungen der Kommunikation.

 

Bei der Mini-Schreibkugel war ich überzeugt, konnte es sich nur um ein besonderes Geschenk gehandelt haben, kommt sie doch mit ihrem goldenen Aussehen und den zahlreichen schönen Details wie ein Schmuckstück daher. Ja und teuer war sie bestimmt auch, vor allem zu jener Zeit. Also nichts für Kinder!

 

Interessanterweise besitzt dieses kleine Meisterstück neben allen nötigen Buchstaben, Zahlen und Zeichen die Deutschen Umlaute Ä, Ö und Ü. Damit wurden die Spekulationen noch weiter angeheizt und die Mini-Schreibkugel über Nacht berühmt.

 

In der Folgezeit nahm ich mich intensiv dieser Fragen an, bekam ich doch vor meiner Abreise aus Kopenhagen einen kleinen Karton mit den Maßen 15 x 15 x 15 cm und ca. 1400 Gramm schwer von Lars Matthiesen, einem direkten Nachfahren von Malling-Hansen, in die Hand gedrückt. Lars bezog sich auf unser Gespräch vom Vortag über meine Restaurationsarbeiten an Nietzsches Schreibkugel und bat mich, die mittlerweile alt und krank gewordene Mini-Schreibkugel zu kurieren. Etwas lächelnd gab er mir zu verstehen, dass er mich aber nicht mit einem weiteren Buchprojekt strapazieren wolle.

 

Die folgenden Restaurationsarbeiten waren interessant und spannend zugleich. Allein die Reinigung und Justage der Typen, die ein Schriftbild vergleichbar der Größe Arial 4 hervorbringen, musste unter dem Mikroskop erfolgen. Und es war deutlich zu sehen, diese Schreibkugel stand über Jahrzehnte im Fenster neben einigen Blumentöpfen und diente nicht selten als Kinderspielzeug. Trotz mehrfachen Gießens wuchs sie jedoch nicht auf die gewünschte Größe.

 

Restauration

 

Der winzige Karton stand nun vor mir in meiner Werkstatt. Das Auspacken und die ersten Blicke auf dieses „Spielzeug“ werde ich wohl nie vergessen. Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, sagte einmal Hermann Hesse. Mein Blick schweifte bei diesen Gedanken über eine noch nicht fertig restaurierte Smith Premier 4. Auf so einem Modell tippte er diesen wundervollen Satz. Doch die kleine Schreibkugel schob sich sogleich vor die Smith Premier und wollte untersucht werden. Eins, zwei, drei, vier, fünf Lichtschalter betätigte ich hintereinander, denn Licht ist bei der Dokumentation des Ausgangszustands das wichtigste Werkzeug. Ich betrachtete die Maschine von allen Seiten, erstellte unzählige Fotos in verschiedenen Belichtungsreihen, wobei Skizzen den ersten Eindruck vervollständigten. Danach folgten Vermessungen und die ersten behutsam ausgeführten Funktionsproben. Ich versuchte nicht daran zu denken, wie sich wohl dieses kleine Wunderwerk noch vor wenigen Jahren neben einem Blumentopf behauptet hat. Der Zustandsbericht weist mitleidslos immer wieder die Wörter Korrosion, Kratzer und Verbogen aus. Ein Teil wird sogar vermisst – der linke Bügel am Papierträger. Na ja, es hätte schlimmer kommen können. Am Schlimmsten ist z. B. eine schlecht ausgeführte Reparatur in der Vergangenheit. Nicht selten werden glanzvolle technische Höchstleistungen von einem unerfahrenen Mechaniker für immer beschädigt oder gar zerstört. So geschehen bei Nietzsches Schreibkugel im Jahr 1882. Dort hat ein Mechaniker, bei dem Versuch einen Reiseschaden zu beheben, mehr Schaden als Nutzen angerichtet und den armen Philosophen zum Verzweifeln und zur Aufgabe der mechanisierten Schrift gebracht.

 

An der offenen Konstruktionsweise einer Malling-Hansen Schreibkugel kann man die Spuren eines unerfahrenen Mechanikers schon mit bloßen Augen erkennen. An Nietzsches Schreibkugel sind heute noch die Abdrücke der Schraubstockbacken des genannten Mechanikers verewigt. Abgebrochene und wieder gelötete Typenstangen sowie Beschädigungen an den Kopflochmuttern runden das Bild ab. An den Reparaturspuren kann man in der Geschichte der Maschine lesen und erkennen, was ihr in der Vergangenheit widerfahren ist.

 

Leider macht die Mini-Schreibkugel auch hier keine Ausnahme. Die Mehrzahl der Kopflochmuttern wurden bei dem Versuch, die Typenstangen aus- und einzubauen in der Vergangenheit beschädigt (siehe Abb. 2). Diese Muttern wurden zuvor mit höchster Präzision in der Werkstätte von Professor C. P. Jürgensen in Kopenhagen aus Messing gefertigt und erfordern ein Spezialwerkzeug. Jedes andere Behelfswerkzeug hinterlässt bleibende Eindrücke.

 

Die Kunst der Restauration besteht nun darin, die Spuren der Geschichte zu erhalten, sämtliche Korrosion zu beseitigen und möglichst die Funktion wieder herzustellen. Entscheidend dabei ist es, selbst keine Spuren zu hinterlassen, um nicht auch noch in die Ahnenreihe der „unerfahrenen Mechaniker“ aufgenommen zu werden.

 

Im Grunde genommen besteht eine Restauration zu 90 Prozent aus der Demontage, dem Reinigen bzw. Korrosion entfernen sowie dem Zusammenbau. Beim Demontieren ist neben Geduld und Fachwissen das richtige Werkzeug entscheidend. Dieses muss im Falle einer Schreibkugel eigens angefertigt werden. Je älter eine Maschine ist, umso mehr muss man sich auch mit den Materialien und Fertigungsverfahren jener Zeit beschäftigen.

 

Von außen betrachtet besteht eine Schreibkugel vorwiegend aus Messing. Bei näherem Hinsehen findet sich jedoch unerfreulicherweise viel Stahl und Eisen, mit den bekannten Konsequenzen – Rost! Korrosion lässt sich in den meisten Fällen auf chemischem Wege entfernen. Über entsprechende „Zaubermittel“ verfügt jeder Restaurator. Besonders Eindrucksvoll lassen sich dann die erzielten Ergebnisse in Vorher/Nachher-Fotos dem staunenden Betrachter zeigen (siehe Abb. 3 - 6). Eine physikalische Reinigung bzw. Korrosionsentfernung unter Einsatz von Drahtbürsten, Scheuermitteln, Schleifpapier, Schabwerkzeugen, etc. sollte nach Möglichkeit vermieden werden, denn sie verhilft nicht selten zu einem direkten Eintrag in die oben genannte Ahnengalerie.

 

Nach etlichen Tagen der Restauration kam ich zu den sorgfältig ausgebauten 54 Typenstangen der Mini-Schreibkugel und musste mit Erstaunen feststellen, dass die Typen nicht gehärtet waren. Die eingesetzten Materialien an der Mini-Schreibkugel sowie die damals bekannten Fertigungsverfahren waren mir geläufig. Aber wieso wurden die empfindlichen 1 x 1 mm kleinen Typen nicht gehärtet? Auf diese Weise konnte die Schreibkugel doch nur für sehr kurze Zeit zum Schreiben verwendet werden. Oder war die Mini-Schreibkugel überhaupt nicht zum Schreiben gedacht? Sollte sie doch nur die Funktion verdeutlichen oder ein schönes Präsent darstellen?

 

Archiv-Recherche

 

Die vorhandenen Umlaute Ä, Ö und Ü hatte ich bis dahin aber zu wenig beachtet. Aus diversen Unterlagen war mir bekannt, dass Malling-Hansen die verschiedenen Varianten der Schreibkugel in Kleinserien fertigen ließ, wobei die Anordnung der Tasten sowie länder­spezi­fische Buchstaben und Zeichen auf Wunsch der Kunden gestaltet wurden. Ein deutscher Kunde also? Wer konnte das gewesen sein? Malling-Hansen hatte durch seine Mitgliedschaft bei den Freimaurern und als führender Volapükist viele Kontakte zu wichtigen Persönlichkeiten der damaligen Zeit. Für meine Recherchen untersuchte ich unzählige Namen, die in den Briefen vorkamen und stieß eines Tages auf Albert von Szabel. Grandios! Dieser Name versetzte mich gedanklich in das Jahr 1873. In Wien traf sich zu jener Zeit alles was Rang und Namen hatte auf der Weltausstellung - einem gesellschaftspolitischen und wirtschaftlichen Ereignis sondergleichen. Über 7 Millionen Besucher wurden gezählt und Malling-Hansen stellte seine großen Schreibkugeln mit elektromagnetischer Auslösung sowie den verbesserten Takygraphen aus. Im Vorfeld der Weltausstellung gab es bereits die ersten Kontakte zu Albert von Szabel, der als Bevollmächtigter am 27.04.1873, also nur 4 Tage vor Eröffnung der Weltausstellung, die Patentschrift des legendären Schnellschreibers (Takygraph) im Namen Malling-Hansens in Wien einreichte. Geboren und aufgewachsen in Olmütz, der früheren Hauptstadt Mährens, suchte auch Albert von Szabel nach wirtschaftlichen Kontakten in der nahen Metropole Wien.

 

In der Folgezeit setzte sich Albert von Szabel sehr intensiv mit den Schreibkugeln auseinander. Er fertigte Zeichnungen an und fügte detailreich eigene Verbesserungen hinzu, die er sogleich zum Patent anmeldete. In Summe sind es 6 Patentschriften, die sich direkt auf die Malling-Hansen Schreibkugel oder den Takygraphen beziehen. Ihm schwebte die Gründung der „Ersten Österreichischen Schnellschreibmaschinenfabrik“ vor, aber für die Produktion von Schreibkugeln stand ihm Malling-Hansens Eröffnungspatent in Wien vom 12. Mai 1870 im Wege. Diese Patentschrift mit dem Titel: „Mechanischer Handdruckapparat genannt Schreibkugel“ erwarb Albert von Szabel im Jahr 1873 für die stolze Summe von 5.000 Dänischen Reichstalern und 5 % vom erzielten Preis jeder verkauften Schreibkugel.

 

Konnte die Mini-Schreibkugel ein Geschenk an Albert von Szabel gewesen sein? Meine Recherchen führten mich zu jedem Platz an dem Albert von Szabel gewirkt und Spuren hinterlassen hatte. So geschehen in Berlin im Jahre 1873. Hier trat Albert von Szabel am 7. Juli 1873 als Bevollmächtigter Malling-Hansens im Preußischen Patentamt auf und reichte die Patentschrift des Takygraphen ein. Es musste somit auch ein Eröffnungspatent der Schreibkugel in Berlin bestanden haben. Im Jahre 1870 ließ Malling-Hansen die Schreibkugel bekanntermaßen in Kopenhagen, Paris, Wien, London und später auch in den USA patentieren. Warum nicht auch in Berlin?

 

Im Preußischen Geheimarchiv werden heute alle Unterlagen aus jener Zeit archiviert. Sie sind gut aufgehoben und durch die damals verwendete Kanzleischrift gleich zweifach geschützt. In der Zeit vor Sütterlin gab es nämlich keine feste Norm für die Schreibschrift, so dass jede Kanzlei Ihre eigene Schrift erfand, was das Entziffern von Handschriften heute sehr erschwert. Zudem lagen nun Handschriften vor mir, die zu jener Zeit auch nur ein Apotheker hätte entziffern können. Trotzdem wurde meine Suche belohnt. Ein Herr Raetke reichte am 30. Mai 1870 die gesuchte Patentschrift für die Schreibkugel ein. Die entsprechenden Unterlagen ließ ich kopieren und stark vergrößern, um auf diese Weise die Texte in mühsamer Kleinarbeit entziffern zu können.

 

Nach dem Entziffern der ersten Zeilen kam aber schnell die Ernüchterung. In der „Acta der Königl. Technischen Deputation für Gewerbe“ steht unter dem Zusatz „betr. Schreibmaschine 1832 – 1875“ zu T. D. 467 vom 30 Mai 1870: 

 

„Der Agent H. Raetke hieselbst bittet um ein Patent auf eine (angeblich) von R. Malling-Hansen in Copenhagen erfundene sogenannte Schreibkugel.“

 

Nach einer ausgiebigen technischen Beschreibung folgt der nüchterne Kommentar des Schreibers:

 

„Mit dem Apparat soll man etwa 3mal so rasch schreiben können als mit der Schreibfeder unter Benutzung der gewöhnlichen Buchstaben. Die Anwendung von Typen zum Drucken von Zeichen auf eine bewegliche Unterlage ist indeß nicht neu, auch schon Gegenstand von Patentgesuchen gewesen […] nur die Anwendung der Typen auf einer Schreibkugel, wodurch alle Lettern nach demselben Punkte hin geschoben werden, ist neu. Da hiernach die angebl. Erfindung nur in Formenänderungen und abweichender Anordnung bekannter Schreib- oder Druckmaschinen besteht, so geben wir ablehnende Bescheidung des Bittstellers ganz gehorsamst anheim.“

 

Weitere Eingaben des Antragstellers wurden wiederholt mit ähnlichen Argumenten abgelehnt.

 

Da aber der Takygraph durch den  Bevollmächtigten Albert von Szabel im Jahre 1873 in Berlin eingereicht und erfolgreich patentiert wurde, machte ich mich auf die Suche nach möglichen späteren Patentschriften zur Schreibkugel. Doch diese Suche fand ein abruptes Ende, da das Preußische Patentamt bereits im Jahre 1877 aufgelöst und durch das Kaiserliche Patentamt als zentrale Behörde im selben Jahr abgelöst wurde. Das Kaiserliche Patentamt war nun für den Patentschutz im gesamten Deutschen Reich zuständig, die Erfindungen mussten somit nicht mehr in den einzelnen Deutschen Staaten geschützt werden. Neues Spiel, Neues Glück! Malling-Hansen reichte nun selbst am 10. Juli 1878 eine Patentschrift mit dem Titel „Neuerungen an Schreibkugeln“ in Berlin ein. Das Patent mit der Nummer 3788 wurde ihm am 1. Februar 1879 zugeteilt. In dieser Patentschrift beschreibt Malling-Hansen den Aufbau und die Funktionsweise der Schreibkugel von Beginn an und fügt markante Neuerungen hinzu. Im Wesentlichen geht es um einen neuen Papierträger (siehe Abb. 9), eine neue Schreibkugel zur Beschriftung von Morsestreifen und um den automatischen Farbband­mechanismus, der bereits auf der Weltausstellung in Paris 1878 vorgestellt wurde.

 

Die Patentzeichnungen des neuen Papierträgers elektrisierten mich. Hier war der eigenartige Papierträger der Mini-Schreibkugel zu erkennen und der heute vermisste linke Bügel am Papierträger fehlte ebenso in der Zeichnung (siehe Abb. 10). Nun gab alles einen Sinn! Die Mini-Schreibkugel wurde als Patentmodell für den neuen Papierträger in halber Größe ausgeführt. Da das Preußische Patentamt die Schreibkugel im Jahr 1870 nicht patentierte und das Kaiserliche Patentamt als Folgeinstitut alle Bestandteile der Schreibkugel zum Verständnis benötigte, wurde das Patentmodell im Jahr 1878 in allen Details ausgearbeitet. Die Mini-Schreibkugel erhielt Deutsche Umlaute aber keine gehärteten Typen, weil sie nicht für den täglichen Gebrauch bestimmt war.

 

Technisch betrachtet war die Mini-Schreibkugel somit ein Patentmodell, aber aus ästhetischer Sicht ein Schmuckstück, denn sie begeistert uns heute mit ihren wunderschönen Proportionen sowie der vollendeten Präzision, die den bekannten größeren Schreibkugeln in nichts nachsteht. Der glanzvolle äußere Eindruck konnte durch die Restauration wieder freigelegt, die Korrosion vollständig beseitigt und die einwandfreie Funktion durch das typische beruhigende Schreibkugel-Ticken wieder hörbar gemacht werden.

 

Für den Abspann sei noch erwähnt, dass Albert von Szabel ab dem Jahr 1875 nicht mehr in Erscheinung trat. Seine Bestrebungen, die Schreibkugel zu modifizieren und eigenständig in Wien zu fertigen, schlugen fehl. Ab dem Jahr 1876 beschäftigte er sich mit der Patentierung von Essbesteck.