Gesundheit, 1886

Karl Heinrich Reclam, 1821-1887, medizinischer Schriftsteller, Polizeiarzt und Professor der Medizin an der Universität Leipzig

Zeitschrift[1] für

Öffentliche und private Hygiene

Organ des internationalen Vereins

Gegen Verunreinigung der Flüsse,

des Bodens und der Luft.

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Redigiert und herausgegeben

Von

Prof. Dr. med. et phil. Carl Reclam[2] in Leipzig
 

Nr 12. XI. Jahrgang. 1886

 

Zunahme der Körpermasse bei Kindern.

Beobachtungen von Malling-Hansen.

 

Zur Erkenntniss der Eigenart, in welcher die Erbegnisse der Ernährung bei Kindern während des schulpflichtigen Alters zum Ausdruck gelangen, sind neue Beobachtungen veröffentlicht worden. In No. 7 dieses Jahrganges der „Gesundheit“ wurde auf die Arbeit von W i l h e l m   S c h r ö d e r  hingewiesen, aus welcher sich ergab, dass die Zunahme der Körperlänge und die Zunahme der Körpermasse ihre eigenen Wege gehen, und der U n t e r z e i c h n e t e  bemerkte hierzu, dass dies schon von Geburt stattfinde, wo die Curven des Längswachstums anders verlaufen als die Curven der Massenzunahme, worüber wir noch den Nachweis führen werden. Neuerlich hat Pastor R. M a l l i n g -  H a n s e n  “tägliche Wägungen der Zöglinge des königlichen Taubstummen-Instituts in Kopenhagen” veröffentlicht (Kopenhagen, J. Cohens, Buchdruckerei), die er als „Fragment II“ seiner Mitteilungen bezeichnet, und in denen er höchst überraschende und interessante Thatsachen  über die Gewichtszunahme, - also Massenzunahme, -  der von ihm im Wachsthum überwachten Kinder berichtet.

 

M a l l i n g -  H a n s e n  unternahm seine Untersuchungsreihe in anderer Weise als seine Vorgänger. Während  Q u e t e l e t[3]  und Andere, um das Normal-Gewicht eines Kindes von bestimmtem Lebensalter festzustellen, sich begnügten, eine Anzahl derselben zu beliebiger Jahreszeit einmal zu wägen, - während V o i t[4] seine massgebenden  Untersuchungen über die Ernährung des Körpers an einzelnen Personen unter gleichzeitiger  Beobachtung möglichst vieler Einzelheiten durchführte, - hielt es M a l l i n g für angemessen, die gleichzeitigen Wägungen einer grossen Anzahl von Kindern T a g  f ü r  T a g ins Werk zu setzen. Sein Verfahren ist gegenüber dem seiner Vorgänger – wenn es erlaubt ist, Grösseres mit Kleinerem zu vergleichen – in ähnlicher Weise unterschieden wie die Beobachtungen, welche einst L a v a t e r[5] an Gesichtszügen einzelner Personen vornahm, um das Typische zu erkennen, welches Berufsarten oder Charakter-Eigenthümlichkeiten dem Gesicht aufdrücken, während man in der Gegenwart eine grössere Anzahl von Photographien, in übereinstimmender Grösse und Kopfstellung, miteinander zu einer gemeinsamen verbindet, um durch die hierbei hervortretenden, Allen gemeinsamen Gesichtszüge unmittelbar den Typus der letzteren zu erhalten. Beide Untersuchungs-Methoden haben ihre volle Berechtigung;  in Bezug auf die Ernährungs-Ergebnisse aber dürfte die des Kopenhagener Gelehrten nach vielfacher Richtung hin den Vorzug verdienen. -
„Bei mir werden alle“ so schreibt derselbe, „g e g e n  70 K n a b e n  t ä g l i c h  4     m a l  g e w o g e n (jedesmal in 4 Abtheilungen auf einer grossen Centesimalwage[6]); morgens und abends nur mit Hemd und Strümpfen bekleidet, - mittags unmittelbar vor und nach dem Essen ganz angezogen; - ebenso sämmtliche  g e g e n   60 
M ä d c h e n : vor und nach dem Mittagessen und 25 Mädchen vor und nach dem Schlaf.  Monatlich einmal wird überdies jedes Kind für sich gewogen. Ferner wird die H ö h e  aller 130 Kinder täglich – morgens um 9 – bestimmt, ausserdem die Harnmenge, die von sämmtlichen Knaben und von den 25 Mädchen im Laufe der Nacht von 9 Uhr abends bis morgens um 6 abgesondert worden ist, Knaben- und Mädchen-Harn jeder für sich; - ferner werden die beiden Harn-Abtheilungen täglich bestimmt in Bezug auf specifisches Gewicht, Harnstoff, Chlornatrium und Phosphorsäure.  Die täglichen  Wägungen sämmtlicher Kinder haben den Werth von 570 Einzelwägungen jeden Tag des ganzen Jahres . Nur einzelne Haupt-Resultate meiner während etwas mehr als zwei Jahre“ will ich nachstehend mittheilen.

 

Die Massen- und Gewichtszunahme des Körpers gibt sich im Verlaufe jedes Jahres in drei gesonderten Zeiträumen kund. Der  e r s t e  beginnt mit den ersten Tagen des Mai und zeigt bis zum Juli eine mässige Abnahme des Körpergewichts. Während des z w e i t e n  Zeitraumes vom Juli bis gegen Ende December, welcher in den Ferien seinen Anfang nimmt, zeigt sich anfangs  eine sehr schnelle  Z u n a h m e des Gewichts. In dem 20 Tagen vom 1. September 1882 an nahmen Knaben und Mädchen zusammen 166 Pfund, d.h. 8 Pfund täglich an Gewicht zu, während in der vorhergehenden Zeit von 20 Tagen vom 25.Mai ab über 60 Pfund verloren wurden, 3 Pfund täglich. – Der  d r i t t e  Zeitraum „scheint sich von Anfang Januar bis gegen den Mai zu erstrecken und zeichnet sich durch eine langsame Gewichtszunahme aus, welche fast der Gewichts-Steigerungslinie folgt.“

 

„In jedem der beiden Jahre war also ein Zeitraum der langsamen Gewichts-Zunahme von Anfang  Januar bis gegen den Mai; - darauf folgte ein Zeitraum des Gewichts-Verlustes von Anfang Mai bis in den Juli, und zuletzt einer des schnellen Anwachsens von Mitte Juli bis Ende December.“

 

Aus dem bisher Mitgetheilten ergeben sich bereits einige nicht unwichtige Folgerungen. Zunächts: eine Einschränkung in der Bedeutung der „diätetischen Wage“. Man sollte annehmen, dass eine grössere Anzahl gesunder Kinder, welche in wohlgeordneten, sorgfältig überwachten Verhältnissen lebt und regelmässig verpflegt wird, während eines halben Jahres ziemlich gleichmässig ihr Gewicht vermehren würde.  Die Massenwägungen lehren jedoch, dass auch das gesunde Kind einen Stillstand in der Vermehrung seines Körpergewichts zeigen, ja sogar eine mässige Abnahme desselben erleiden kann, ohne dass man hierdurch berechtigt wäre, auf eine vorhandene Krankheit zu Schliessen. Der regelmässige Gebrauch von Wägungen, welche besorgte Eltern etwa allwöchentlich ausführen, um sich das Gesundheitszustandes ihrer Kinder zu versichern, braucht also keineswegs Befürchtungen hervorzurufen, wenn während des angegebenes Zeitraumes eine Gewichtszunahme  nicht erfolgt, wohl gar eine Gewichts-Abnahme eintritt. Dies ist ein völlig  n e u e s  , bis dahin nicht geahntes, Ergebnis der vorliegenden Untersuchungen, welches geeignet ist, Besorgnisse zu zerstreuen.

 

Wie gross der Unterschied sein kann, ergibt sich an dem Beispiel, dass in den 270 Wägungen vom 11.Mai 1882 bis Ende Februar 1883 (die Ferien ausgeschlossen) die Knaben im Ganzen 276 Pfund zunahmen; von diesen 276 Pfund fallen 229 Pfund auf nur 51 Tage, während der kleine Rest auf alle übrigen Tage vertheilt ist, sodass also: in den erwähnten 51 Tagen die Knaben im Durchschnitt und täglich zusammen 20 mal so viel an Gewicht zunahmen als in den übrigen 219 Tagen.

 

Ebenso werden die Wägungs-Ergebnisse vor und nach den  F e r i e n c o l o n i e n  durch die gemachten Beobachtungen  w e r t l o s , ja können sogar  f a l s c h e  Ergebnisse darstellen, da sie an zwei einzelnen, weit von einander getrennten Tagen vorgenommen werden, und man den regelmässigen Verlauf in Zunahme und Abnahme des Gewichts nicht kannte. Ganz dasselbe gilt von den Genesenden.

 

M a l l i n g  sucht nach einer Erklärung dieser Schwankungen im Gewichtsverlust und der Gewichtszunahme und glaubt, dass die letztere mit der Zunahme der Temperatur übereinstimme und wahrscheinlich von ihr abhängig sei. Er unterlässt es, seine Ansicht  des Näheren zu begründen. (Nach unserem Dafürhalten könnte die Begründung doch nur darin bestehen, dass der menschliche Körper bei Zunahme der äusseren Luft-Temperatur eine geringe Menge Stoff aufwendet, um seine Eigenwärme zu erhalten, und dass gleichsam die Ersparnisse, die hierbei der Organismus macht, zur Vermehrung der Masse benutzt wird. Allein diese Hypothese ist nicht nur unbewiesen, sondern würde auch noch entkräftet durch den nicht unbeträchtlichen  Gewichtsverlust, welchen der Körper infolge starker Verdunstung während der wärmeren Jahreszeit erleidet. Auch erstreckt sich die Wärme-Zunahme der Luft-Temperatur nicht bis Ende December, und es wäre daher nicht abzusehen, wie eine durch grössere Aussenwärme bewirkte Massenvermehrung im Stande sein würde, auch noch in die kältere Jahreszeit hinein ihre Wirkung zu äussern. Jedenfalls müsste die grössere Aussenwärme auch beim Erwachsenen sich durch Vermehrung der Masse kundgeben, wovon aber zur Zeit nichts bekannt ist; im Gegentheil, es ist bekannt, dass manche Personen mit zunehmender Luftwärme abmagern, mithin an Körpergewicht verlieren. In jedem Falle wäre der Vergleich zwischen Kind und Erwachsenen nöthig, bevor man an Versuche zu einer Erklärung geht, welche keineswegs so einfach sein dürfte, als der Verfasser es zu glauben scheint.)

 

Zum Belege seiner Vermuthung führt M a l l i n g  an, dass Wärmezunahme und Gewichtszunahme  jedes Jahr zusammen gegangen seien, - dass Abnahme der Wärme um 2° C. von der mittleren Temperatur während zweier Tage auch eine Abnahme der Gewichts-Vermehrung herbeiführt, - dass eine Wärme-Steigerung um 3° C. von der mittleren Temperatur während 5 Tage von Gewichtszunahme begleitet war, - dass ein Jahr mit vielen Wärme-Veränderungen minder kräftige Kinder aufweise als ein Jahr mit möglichst gleich bleibender Temperatur. (Wenn dies ohne Weiteres Geltung hätte, und kein Ausgleich  in irgend einer Weise stattfände, so müssten alle in   M i t t e l d e u t s c h l a n d  aufgewachsenen Kinder schwächlich und unzureichend ernährt sein; denn im ersten Drittel der norddeutschen Ebene, wo das „unregelmässige Wetter“ in hohem Grade herrscht, findet man nur selten während einer Woche gleichmässige Luft-Temperatur, wohl aber häufig zwischen 2 Tagen einen Unterschied von 10 und mehr Graden. Es wäre also hier der Anlass zu Anämie und Körperschwäche gegeben. Nun fehlen zwar exacte Untersuchungen, welche einen Vergleich zwischen Gesundheit, Körperkraft und Leistungsfähigkeit der heranwachsenden Generation im  S ü d e n, im  M i t t e l d e u t s c h l a n d  und in der n ö r d l i c h e n, germanischen und ihr verwandten Bevölkerung gestatten, - allein dass die Bewohner Mitteldeustchlands im Wesentlichen und Allgemeinen keine höhere Sterbe-Ziffer haben, als die Bewohner des Nordens, und dass sie wenigstens auf geistigem Gebiete an Leistungsfähigkeit den letzteren nicht nachstehen, dürfte doch unleugbar sein).

 

Des Weiteren gelangt M a l l i n g zu dem Ergebnisse: dass in der Mitte des März (die Mädchen auch im April), und nicht in den kälteren Zeiten des Jahres, die Kinder am meisten gegessen haben, und dass der Appetit bei ihnen um diese Zeit sich erheblich gesteigert habe. Die grösste Portion des Mittagessens, dass ein Knabe eine Woche hindurch  über 9 Pfund,, und die geringste Menge, dass er 7 Pfund zu sich genommen; bei den Mädchen betrug sie Schwankung zwischen 7 und 5 Pfund. Es ergab sich also für die Knaben ein Unterschied um 33 %, bei den Mädchen um 46%. Es essen die Knaben durchschnittlich  über 18% mehr als die Mädchen, obwohl auch hier Schwankungen sich vorfinden.

 

Das sogenannte „Mittag-Reglement“  d.h. der Speisezettel der Zöglinge hat „eine Periode von nur 7 Tagen. Jeden  S o n n t a g  werden dieselben Gerichte gegeben; Jeden Montag andere u.s.f.“ (Diese Einrichtung ist als eine sehr schlechte zu bezeichnen. Alle Hygieniker, welche sich mit der Ernährungsfrage beschäftigen kommen darin überein, dass häufiger Wechsel nach Geschmack und Form der Speisen den Appetit und die Ernährung in der Massen-Verpflegung wesentlich begünstigen. Als Unterzeichneter in den Jahren 1870 – 71 ein Kriegs-Lazareth dirigierte, gelang es ihm einen Speisezettel zu entwerfen, bei welchem dasselbe Gericht erst nach 3 Wochen wieder an die Reihe kam. Dies wurde von den Verpflegten allgemein geschätzt und gerühmt; der Appetit bei den Verwundeten und von Krankheit  Genesenden war vortrefflich und neben der sorgfältig überwachten, sehr ausgiebigen Ventilation sind wir geneigt, die ungewöhnlich  günstigen Erfolge, welche erzielt wurden, vom Speisezettel abzuleiten, der auch nach anderer Richtung besser war, als sonst in Hospitälern. Wöchentliche wiederkehrende Gerichte werden leicht widerlich.)

 

Die Wägungen ergaben, dass die Kinder sehr verschiedene Menge von den einzelnen Speisen genossen.  M o n t a g: Erbsensuppe, Fleisch und Speck;
D i e n s t a g: Fleischbrühe, Rindfleisch und Reis; auf jeden Knaben entfallen durchschnittlich 700 Gr. Also nahezu das Doppente; - die folgenden Tage werden leider nicht mitgetheilt. – Die Esslust stieg und fiel bei Knaben und Mädchen gleichzeitig, blieb aber bei den Mädchen immer etwas geringer. Die geringste Durchschnittsmenge des aufgenommenen  Mittagmahles war 280 Gr. Auf den Zögling, - die grösste 950 Gr. „freilich an einem Festmittage, am Geburtstage des Königs.“ Welchen Einfluss die Art der Speise ausübt, ergibt sich daraus, dass an jedem  D o n n e r s t a g e, an welchem Gerstenbrei und Milch und nachher Lobescowes (?)[7]  gegessen wurden, die Knaben durchschnittlich  50% mehr essen als am  F r e i t a g e: wo man ihnen Kohlsuppe mit Schweinsrücken reichte, und 100% mehr, als an jedem Montage.

 

M a l l i n g  war sich wohl bewusst, dass sein „Verpflegungs-Reglement“ mit den Vorschriften der heutigen Hygiene nicht übereinstimmte, dass es zwar in Bezug auf die gegebene Menge der Nahrungsmittel so ziemlich genügte, dass ihm aber grosse Fehler und grosse Mängel anhafteten. Jeden Morgen erhielten die Zöglinge eine dünne Biersuppe, den Tag über von demselben Biere überreichlich als Getränk, und allzuviel Schwarzbrod aber kein Weizenbrod und fast keine Milch. Nach den Berechnungen enthielt die Kost zu wenig Eiweisstoffe. Es wurde nun eine Kost aufgestellt, bei welcher die Kinder früh und abends statt der dünnen Biersuppe „Milch“ erhielten, ferner zur Hälfte „Schwarzbrod“, zur Hälfte „Weissbrod“, mehr Eiweisstoffe und diese, nebst den Kohlenwasserstoffen und den Fetten, in möglichst richtigen Mengen in den Mittagsmahlzeiten vertheilt.

 

Dieser neue Speisezettel wurde vom 16. Mai 1883 ab eingehalten, hat also ein volles Jahr während der fortgesetzten Wägungen bestanden, hat aber, wie M a l l i n g mit Zahlen nachweist  k e i n e  g ü n s t i g e r e   E r n ä h r u n g  d e r   K i n d e r  bewirkt, - wenigstens was die Massenzunahme anbelangt. Er benutzt übrigens die Gelegenheit, um den Werth der regelmässig fortgeführten  t ä g l i c h e n  Wägungen vor den bis jetzt gebräuchlichen  E i n z e l w ä g u n g e n  zu zeigen. Hätte man die Kinder am 11. Mai und 11. September 1882 nach dem alten Speisezettel mit dünner Biersuppe, Schwarzbrod u.s.w. und dann wieder am 11. Mai und 11. September 1883 gewogen, so würde man gefunden haben, dass nach dem alten Reglement die Knaben  vom 11.September 1882 an nur 310 Pfund an Gewicht zugenommen hatten, dagegen in den 8 Milch-, Weizenbrod- und Eiweissreichen  Monaten 415 Pfund, also ein Viertheil mehr. Aus den Aufzeichnungen über die täglichen Wägungen geht aber hervor, dass dieser günstige Erfolg nur ein scheinbarer war.

 

„Den 16. Mai 1883 kommt die Reglements-Verbesserung, und schon vom 18. An (anstatt die Gewichts-Abnahme fortzusetzen) nehmen jetzt Knaben und Mädchen, alle 130 Kinder, in schönster Eintracht gewaltig an Gewicht zu. Es dauert aber diese Gewichts – Zunahme, welche so gross ist wie die Zunahme in den besten
Gewichtsteigerungszeiten  n u r 21 Tage; vom 6. Juni an stehen Knaben und Mädchen 14 Tage still und verlieren dann wiederum – wie früher – im Juni nach und nach an Gewicht – Das neue unfehlbare Verpflegungs-Reglement, für Jahre abgefasst, hat also nur 21 Tage genützt.“ – Den Unterschied zu Ungunsten der alten Verpflegung  sucht M a l l i n g in den darnach herrschenden unbeständigen Witterungsverhältnissen.

 

Das ist allerdings ein geradezu niederschlagender Misserfolg für die bisher gültigen diätetischen Vorschriften. Unterzeichneter ist selber kein Freund der ängstlich die Atome berechnenden Diätvorschriften, aber eine gewisse Begrenzung in der Menge der einzelnen Nährstoffe, und einen bedeutenden Einfluss der leichter verdaulichen Speisen kann man nach allen bisherigen Beobachtungen und Erfahrungen nicht von den Hand weisen, - während es nach  M a l l i n g’ s  Veröffentlichung  den Anschein  gewönne , als ob es ziemlich gleichgültig  sei, welche Auswahl man treffe.  Wir erwarten von den späteren Mittheilungen, für welche die vorliegende offenbar nur ein Vorläufer ist, weiteren Aufschluss.  Für  jetzt ist nicht zu erkennen, aus welchen Gründen die Kinder das ihnen gebotene bessere Essen nicht haben ausnützen können.  Wie viel die reine gute Luft, deren sich die Anstalt erfreut, die Nähe der See, die Tages-Eintheilung und Arbeitsthätigkeit der Kinder von Einfluss ist, lässt sich beim Mangel näherer Kenntnis der Verhältnisse nicht entfernt ermessen. Auf die Bedeutung dieser Einwirkungen haben wir schon in No. 7 d.Jahrg. bei Gelegenheit der Rostocker Beobachtungen hingewiesen. Man wird im Binnenlande Mitteldeutschlands und Süddeutschlands derartige Arbeiten wiederholen müssen, um den Einfluss des Klima‘s zu erkennen. Jedenfalls hat sich Pastor  M a l l i n g - 
H a n s e n  den Dank aller Physiologen und Hygieniker, sowie aller Derjenigen erworben, welche Freunde der Jugend und eines kräftig aufwachsenden Geschlechtes sind. – Ueberblicken wir nun die Ergebnisse der gesammten Beobachtungen.

 

                                                                       Professor  C. R e c l a m

                                                                       (Fortsetzung folgt.)
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Gesundheit Nr. 13, 1886, Seite 196:

 

Uebersichten.


Zunahme der Körpermasse bei Kindern.
Beobachtungen von Malling-Hansen.

 

(Fortsetzung.)

 

Aus den von Malling-Hansen, Director der Taubstummen-Anstalt  zu Kopenhagen, aufgespeicherten  Beobachtungen und Thatsachen wurde in No. 12 der „Gesundheit“ eine Auswahl aus der Veröffentlichung , welche der Verfasser als „Fragment II“ bezeichnet, mitgetheilt. An vorliegender Stelle beginnen wir mit dem vom Beobachter selber am Schlusse des „Fragment I“ aufgestellten Ergebnissen. Wir werden dabei soviel als möglich die eigenen Worte des Beobachters wiedergeben, nur da von denselben abweichend, wo Kürze des Ausdruckes oder die ihm fremde deutsche Sprache eine Abwehr von Missverständnissen oder stilistische Aenderungen wünchenswerth machte. -  -

 

1) V e r f a h r e n. – Die tägliche Wägungen sind so ausgeführt worden, dass man die Kinder  nach ihrem Alter in einzelne Klassen einheilte end dann alle Kinder je einer Klasse auf einmal wog; - man bediente sich dabei zur möglichst schnellen Ausführung dieser Wägungen einer grossen Centesimalwaage. Ausserdem wurden zur Sicherstellung die Kinder einzeln gewogen, und zwar jedes Kind einmal in jedem Monate.

 

Die Wägungen werden am besten des Morgens ausgeführt, unmittelbar nachdem die Kinder aufgestanden sind, und am Abend vor Schlafengehen. Indessen können auch Wägungen zu einer anderen bestimmten Tageszeit brauchbare Ergebnisse liefern, wenn die Tageseintheilung fest eingehalten wird, namentlich was Aufnahme von Speise und Trank betrifft. Selbst der Umstand, dass die Kinder bei Tage angekleidet sind, während sie früh und Abends nur in Hemd und Strümpfen, also nahezu unbekleidet gewogen wurden, hat sich nicht störend bewiesen.

 

2) A l l g e m e i n e   E r g e b n i s s e. In der Voraussetzung, dass die wahrgenommenen Gewichts-Schwankungen im Wesentlichen von Jahr zu Jahr sich wiederholen, können folgende Ergebnisse hinsichtlich der Abnahme und Zunahme im Gewicht eines  g e s u n d e n  (normalen) Knaben im Alter von ungefär 12 Jahren unter Voraussetzung  r e g e l m ä s s i g e r  (normaler) Verhältnisse aufgestellt werden:

a. Das Kind kann vom Morgen bis zum darauf folgenden Abend um 2 Pfund Gewicht zunehmen, ist also während der Zeit eines Tages um 2 Pfund schwerer geworden; - aber es kann am darauf folgenden Morgen bis zu 1,5 Pfund leichter befunden werden als bei der Abend-Wägung, kann also während der Nacht bis 1,5 Pfund an Gewicht abnehmen.
Von dem einen Abend bis zum nächst darauf folgenden kann das Kind um 1 Pfund schwerer befunden werden – oder um 0,75 Pfund leichter.
Diese grossen Gewichtsschwankungen, welche während eines Tages und von einem Tage zum anderen vorkommen, beweisen: wie mangelhaft und irreleitend diejeningen Wägungen sind, welche in grösseren Zwischenräumen, als täglich, vorgenommen werden.

b.  Bewegung, Baden, Beschäftigungen  u.s.w.  haben keinen so grossen Einfluss auf die Gewichtsschwankungen als die Aufnahme von Nahrung.
Wenn nur das Mittagessen, aber nicht die übrige Verpflegung, von Tag zu Tag die Woche hindurch abwechselt und in der nächsten Woche wiederum das Mittagessen in derselben Reihenfolge verabreicht wird, so erhält man eine deutliche Wochen-Periode in den Gewichts-Schwankungen.

 

c.  Die b l e i b e n d e  Gewichts-Zunahmes des Kindes vollzieht sich nicht stetig und ebenmässig das Jahr hindurch.
Ein Zeitraum des  S t i l l s t a n d e s  in der Gewichtsgrösse mit darauf folgendem Gewichts-V e r l u s t  erstreckt sich von  A n f a n g M a i  b i s   ü b e r   M i t t e  des  J u l i  hinaus. Der Gewichts-Verlust kann bis zur doppelten Grösse der berechneten mittleren Vermehrung steigen.
Ein Zeitraum sehr starker Gewichts- V e r m e h r u n g  tritt in den Monaten  
A u g u s t,  S e p t e m b e r  u n d  O c t o b e r  ein. Die Gewichts-Vermehrung kann hier bis zum Fünffachen der berechneten mittleren Vermehrung sich steigern.
S c h w a n k u n g e n  des Gewichtes, bald über, bald unter die berechnete mittlere Zunahme folgen hierauf.
W ä h r e n d   d e r   S o m m e r f e r i e n  erfolgt erhebliche Gewichts-Z u n a h m e  und zwar um das Doppelte von dem, was als mittlere Steigungslinie berechnet wurde während des  S e p t e m b e r s  und des  O c t o b e r s; sie erhebt sich oft bis zum Dreifachen.

 

d.  Ein F ü n f t e l  des Jahres hindurch besteht also keine Gewichts-Zunahme, sondern Stillstand des Gewichtes und sogar Gewichts-Abnahme;  -  ausserdem tritt zuweilen eine Hemmung der Gewichts-Zunahme ein während 6-14 Tagen,  - ihr folgt zuweilen ein Gewichts-Verlust, welcher bis um das Dreifache die berechnete mittlere Vermehrung übersteigen kann. Derartige Schwankungen kommen während des ganzen Jahres vor, selbst zur Zeit der kräftigsten Massenvermehrung und Gewichtssteigerung. Der Stillstand in der Gewichts-Vermehrung oder der Gewichts-Verlust, den das Kind in diesen Zeiten erleidet, wird nicht durch eine später eintretende stark erhöhte Gewichts-Vermehrung ersetzt; diese Erscheinungen scheinen dem Kinde schädlich zu sein.

 

e.  Die ganze Gewichts-Vermehrung während eines Jahres vollzieht sich infolge dessen so ungleichmässig, dass die eigentliche Gewichts-Vermehrung  wohl nur in einem fünften Theile des Jahres erfolgt, während die übrige Zeit mit Gewichts-Verlust und dem Ersatz desselben vergeht.

 

f.  M a l l i n g  fand eine deutliche Uebereinstimmung zwischen den Wärmeschwankungen von 5 zu 5 Tagen und den Gewichts-Schwankungen  des Kindes in derselben Zeit. Wärme-Zunahme und Gewichts-Zunahme, Wärme-Abnahme und Gewichts-Abnahme gehen zusammen.
Eine Abnahme der Wärme um 2 Grad von der mittleren Temperatur von fünf Tagen zu derjenigen der nächsten 5 Tage, wird von einer Abnahme der Gewichts-Vermehrung bis zu einem Neuntel begleitet.
Eine Wärme-Steigerung von 3 Grad, von der mittleren Temperatur von fünf Tagen bis zu der der nächsten fünf Tage, wird von einer dreizehnfach erhöhten Steigerung der Gewichtsvermehrung begleitet.
Viel geringere Wärmeschwingungen  werden auch von entsprechenden Gewichtsswingungen begleitet.
Die an eine grössere Wärme-Abnahme sich anschliessenden Gewichts-Hemmungen und Verluste können (durch eine vermöge der Wärme-Abnahme hervorgerufene Kränklichkeit) längere Zeit hindurch, nachdem eine neue Wärme-Zunahme begann, fortgesetzt und gesteigert werden.
Es scheint, dass die Ursache des grossen Stillstandes und Gewichts-Verlustes im Mai, Juni und Juli, sowie auch die grosse Gewichts-Zunahme in den Herbstmonaten anderswo gesucht werden müsse, als in der Wärme.
Ein Jahr mit vielen Wärme-Veränderungen wird mit der normalen Gewichts-Vermehrung eines Kindes weit ungünstiger sein, als ein Jahr mit weniger derartigen Schwankungen.
Eine Reihe von mehreren solchen ungünstigen Jahren wird mehrere Jahrgänge von minder kräftigen Kindern ergeben, und umgekehrt.

 

 

Wir fügen zu dieser Uebersicht des Verfassers noch einige interessante Einzelheiten.
Die 72 Knaben waren in 8 Altersklassen eingetheilt, - ebenso die 58 Mädchen. (Im Ganzen also 130 Kinder, welche als Beobachtungs-Gegenstand dienten). Jede Alters-Klasse wurde einzeln gewogen, was nach gehöriger Einübung der zu Wägenden und des Wiegers für je 8 Klassen, nur 5 Minuten in Anspruch nahm. Man gewann durch dieses Verfahren nicht nur eine ausserordentliche  Zeitsparniss, sondern es wurden auch in bemerkenswerther Weise die Fehlerquellen verringert, da sie bei gemeinsamen Wägungen Mehrerer sich auf die ganze Zahl der Kinder  als eine einzige Quelle vertheilten, während sie bei Einzelwägungen sich summirt und somit bedeutend vergrössert haben würden. Uebrigens wog man von Zeit zu Zeit jedes Kind einzeln und konnte dann die Addition der Einzelwägungen mit den Ergebnissen der Massenwägung vergleichen.
Was die Gewichtsschwankungen  zwischen einzelnen Tagen anbelangt, so zeigten sich Verringerungen des Gewichtes nur während der Nachtzeit; die Schwankungen im Gewichte zwischen je 2 auf einander folgenden Tagen, mit Einschluss der Nacht, waren bald abnehmend, bald zunehmend; dagegen fand im Verlauf je eines Tages, d.h. vom Morgen bis zum Abend, immer Gewichtszunahme statt. Die Unterschiede zwischen den einzelnen Tagen sind oft so bedeutend, dass sie die Unterschiede zwischen den Monaten aufheben.  M a l l i n g  beweist dies aus seinen Wägungs-Tabellen und sagt: „Ich wäge die 72 Knaben am 23. Mai um 9 Uhr Abends und darauf am 23. Juni zur selben Stunde und finde, dass sie im vergangenen Monat 40  P f u n d  zugenommen haben; - hätte ich nun aber, statt des 23. Mai den 28. Zum Wägetage gewählt und die Kinder also am 28. Mai und am 28. Juni gewogen, so würde ich keine Gewichts-Vermehrung, sondern einen Gewichts- V e r l u s t  v o n  60  P f u n d  erhalten haben.“ Es erweist dies  die Nothwendigkeit täglicher Untersuchungen , wenn man derartigen Fehlern entgehen will.  M a l l i n g  macht daher darauf aufmerksam, dass die Wägungen  V a r r e n t r a p p’ s[8]  vor und nach der Ferien-Colonie völlig werthlos  seien; sie ergaben scheinbar für jedes Kind in Düsseldorf eine Zunahme des Körpergewichtes von 4,5 Pfund, in Cöln von 10 Pfund und an anderen Orten von nur 1 Pfund. Irgend welche Schlüsse lassen sich hieraus nicht ziehen, weil man den Zufall nicht auszuschliessen vermag, was doch nur durch täglichen Wägungen möglich wäre. (Wenn z.B. das Cölner Comité den Kindern noch zuletzt ein besonderes Vergnügen hätte bereiten wollen und ihnen mit leckerer Kost ein Abschiedsfest gegeben hätte, so wäre damit auch die bedeutende Gewichtssteigerung auf ihre wahre Ursache zurück geführt.)

 

Die  G e w i c h t s v e r ä n d e r u n g e n  im  V e r l a u f e  d e r  N a c h t von Abends 9 Uhr bis zum nächsten Morgen um 6 Uhr betrug bei den 72 Knaben durchschnittlich in jeder Nacht 77 Pfund, also für die Nacht bei jedem Knaben etwas über 1 Pfund. Diese Abnahme erklärt sich leicht, da der Urin sämmtlicher Knaben an jedem Morgen gewogen wurde und ein Gesammtgewicht von 42 Pfund ergab; rechnet man hierzu 35 Nachtschweiss und Ausdünstung, sowie die in der Ausathmung  enthaltene Feuchtigkeit mit organischen Stoffen, so ergibt sich die Ursache des Gewichts-Verlustes. Uebrigens zeigen sich hierbei auch die Ursachen der Schwankungen, denn die Urinmenge schwankte zwischen 30 und 60 Pfund, die Lungen-Ausdünstungen zwischen 24 und 42 Pfund während einer Nacht.  „In der 3 Wochen vom 27.September bis zum 17.October  1882 betrug die Summe der gesammten  Ausdünstungen  u .s. w.  der Knaben 611  P f u n d ; - in den nächsten 3 Wochen aber 676  P f u n d, oder  6 5   P f u n d  m e h r.  Der Gewichtsverlust der Knaben betrug aber in dieser letzten Zeit durchschnittlich  3  Pfund mehr in jeder Nacht, als in der vorhergehenden Periode. Vom 18. October an wurde der Schlafsaal der Knaben  geheizt. Die Temperatur betrug während des Wägens an jedem Abende nur  9 – 11 ° R[9]. und in der Nacht ward nicht mehr geheizt. Ein kleiner Wärme-Zuwachs im Schlafsaale des Abends und während des ersten Theiles der Nacht, hatte also eine recht bedeutende Zunahme des Gewichts-Verlustes der Knaben zur Folge.“ – Auch hier konnte die eigentliche Bedeutung  und die Ursache der Gewichts-Schwankungen nur durch  t ä g l i c h e  Wägungen klar erkannt und in das rechte Licht gestellt werden.                              

 

                                                                                   (Schluss folgt.)

 

 

U e b e r s i c h t e n.

 

Zunahme der Körpermasse bei Kindern.

 

Beobachtungen von Malling-Hansen in Kopenhagen. (Schluss.)

 

Wir haben in voriger Nummer einen Theil der Gewichts-Bestimmungen eingehender verfolgt, wie ihn Malling-Hansen  in seinen Fragment I veröffentlichte. Wir wollen vorläufig nicht in gleicher Weise fortfahren, da es uns nur darum zu thun ist, unseren Lesern ein klares Bild seiner Untersuchungs-Methode und deren Hauptergebnisse darzulegen. Vielleicht dass wir bei späterer Gelegenheit an das in Heft I Enthaltene wieder anknüpfen. – An vorliegender Stelle sei nur hervorgehoben was Malling in seiner jüngsten Veröffentlichung vom 8. Juni 1886 und bei früherer Gelegenheit in der „Berlingske Tidende“ als Schluss-Ergebnisse ausführt. – Man wird sich aus den beiden vorhergehenden Besprechungen erinnern, dass die Beobachtungen, welche Pastor Malling-Hansen als Vorsteher des Königl.Taubstummen-Instituts zu Kopenhagen an den 140 männlichen und weiblichen Zöglingen desselben machte, in directem Widerspruche mit der bisherigen Annahme der Physiologen  stand, dass bei der Entwicklung der Kinder die Zunahme der Körpergrösse und die Zunahme der Körpermasse – also Körperlänge und Körpergewicht – gleichmässig verlaufe, sodass während des ganzen Jahres das Kind gleichmässig länger werde und gleichmässig die Masse seines Körpers aufbaut. Die Kopenhagener  Beobachtungen, welche, mehrere Jahre hindurch fortgesetzt, die Gleichmässigkeit der Erscheinungen beweisen, haben dieser Annahme  den Todesstoss gegeben. Man ist genöthigt gewesen, sich zu überzeugen, dass eine dreifache Gruppirung der Jahreszeiten  zu bestimmten Perioden stattfindet: „Die mit den Jahreszeiten verknüpfte Art der gemeinsamen Wachsthums-Schwankungen, zerfällt drei Haupt-Abtheilungen, die sich alljährlich wiederholen. Der   H ö h e n z u w a c h s  (Längenzunahme) geschieht am lebhaftesten von Mitte April bis in den August, zu gleicher Zeit  v e r l i e r e n  aber die Kinder bedeutend an Gewicht. Die jährliche Maximalperiode der Höhe fällt also mit der Minimalperiode des Gewichts zusammen. In die Zeit vom August bis in den December fällt die grösste  G e w i c h t s z u n a h m e, und zu gleicher Zeit hat der Höhenwuchs seine Periode der geringsten Zunahme. Vom December bis in den April nehmen die Kinder an Gewicht schwach zu, sowie auch der Höhenzuwachs geringer ist, als in der Maximalperiode der Höhe“.  Die Beobachtungen ergeben aber doppelte Schwankungen: die eine ist, wie eben erwähnt, mit den Jahreszeiten verbunden, - die andere dagegen setzt sich ohne Rücksicht auf die Jahreszeit das ganze Jahr hindurch fort. Die erste Art der Schwankungen gipfelt ihre Eigenthümlichkeit darin, dass bei der höchsten Gewichts-Zunahme das Längenwachsthum am kleinsten ist, während bei der grössten Längenzunahme wiederum die Körpermasse am wenigstens sich vermehrt. Die zweite Art der Schwankungen fällt unbeirrt von der Jahreszeit zusammen mit dem Temperatur-Wechsel, und zwar so, dass jede Zunahme an Wärme, sei es von – 4 Grad auf – 3 Grad oder von + 13 Grad auf + 14 Grad immer von einer Steigerung des Körpergewichts begleitet ist; - umgekehrt entspricht einem jeden Fallen der Temperatur eine geringere Zunahme an Körpergewicht, welche so stark sein kann, dass dasselbe  unter das vorher beobachtete herabgeht, und also ein Gewichts-Verlust sich herausstellt.  Zugleich beobachtet man, dass die Gewichts-Zunahme nicht einfach zunimmt, sondern sich während der Wärme-Erhöhung stetig steigert, sodass bei gleichmässiger  Einwirkung der Wärme die Massen-Vermehrung am ersten Tag gering ist, am zweiten sich verdoppelt, am dritten sich verdreifacht u.s.w., bis eine Temperatur-Abnahme der weiteren Steigerung den Weg versperrt  und im Gegentheil eine Gewichts-Abnahme herbeiführt.

 

Da sich daneben kleine Unregelmässigkeiten kundgeben, da ferner die aufgezeichneten Curven der Gewichts-Zunahme und Abnahme in weit höheren Grade regelmässig verlaufen als die Curven der Wärme-Zunahme und –Abnahme, so kam M a l l i n g  auf die Vermuthung, es müsse noch eine andere Einwirkung vorhanden sein, welche sich gleichzeitig mit der Wärme-Steigerung geltend macht. Es schien ihm nicht unglaubhaft, dass sowohl die Gewichts-Zunahme als die Temperatur-Zunahme von einer  g e m e i n s a m e n  Ursache bewirkt werde, und er trachtete daher danach, diesen über beiden stehenden Einfluss soweit als möglich kennen zu lernen. Es zeigte sich, dass im ersten Jahre Schwankungs-Perioden von je 24, im zweiten Beobachtungs-Jahr von je 25 Tagen vorkamen, - dass drei unter sich gleiche Perioden von 24 und 25 Tagen sich folgten, - dass also je drei Perioden zu einer gemeinsamen von 72 in dem einem Jahr und 75 Tagen in dem anderen Jahr sich vereinigten, - dass im dritten Jahr die Perioden zu he 26 Tagen, und ihrer drei zusammen zu 78 Tagen vorkamen. (In diesen letzteren Perioden von 26 Tagen nahm das Gewicht der Kinder 7 Tage lang zu, 7 Tage ab, 4 Tage lang zu, und darauf 8 Tage lang ab, was sich dreimal hintereinander wiederholte.)

 

„Da diese Perioden von 24, 25 und 26 Tagen der angenommenen Umdrehungs-Geschwindigkeit der  S o n n e  von 27 Tagen nicht sehr fern liegen, und da zugleich andere Umstände dahin deuteten, so drängte sich mir die Frage auf, ob nicht die gesuchte gemeinsame Ursache an der Veränderlichkeit des Gewichts und der örtlichen Wärme in der Veränderlichkeit der Sonne selbst zu finden sei, und zwar besonders in zwei Wärme-Gebieten und zwei kälteren Gebieten um den Sonnen-Aequator, entsprechend dem beiden Steigungen und den beiden Senkungen  der Gewichts-Zunahme innerhalb der 24 bis 26tägigen Periode. Von dergleichen täglichen Variationen der Sonnenwärme lehrt indessen die Wissenschaft durchaus nichts.

 

Sollten sich in der von der Sonne ausgehenden Wärme selbst dergleichen Variationen finden, so mussten sie sich ergeben, wenn ich unter Anleitung der Anzahl meteorologischer Stationen aufsummirte.

 

Mein Verfahren war dabei durchgängig wie folgt: Die atmosphärische Wärme jedes Ortes wurde von Tag zu Tag und in 72tägigen Perioden der Reihe nach aufgezeichnet vom 23. September bis 5. December 1882, unter dieser Reihe die Wärme-Angaben der nächsten 72 tage u.s.w., gewöhnlich je vier Reihen; jedes Glied der ersten Reihe wurde mit den darunter stehenden der übrigen Reihen zusammengezählt, und so ergab sich eine tägliche Durchschnitts-Wärme für die vier Reihen.

 

Bei dieser Zusammenzählung zeigten die Schwankungen der Wärme-Beobachtungen  aus Wien, aus Stationen in Indien, aus Vivi im Kongofluss, Port Dover an den Canadischen Seen , Paramaribo an der Ostküste Südamerikas, Cordoba in der Argentinischen Republik u.s.w. eine weit grössere Uebereinstimmung mit den Gewichtsschwankungen in Kopenhagen, als die hiesigen Wärmeschwankungen. Wenn ich die Wärme-Angaben zweier beliebiger Stationen übereinstimmend mit den gefundenen Gewichts-Perioden zusammenlegte, so wurde die Uebereinstimmung zwischen den Summen der Gewichts-Schwankungen und denen der Wärme-Schwankungen noch gefundenen Gewichts-Perioden zusammenlegte, so wurde die Uebereinstimmung zwischen den Summen der Gewichts-Schwankungen und denen der Wärme-Schwankungen noch  g r ö s s e r  ; je mehr Wärme-Angaben verschiedener Stationen ich hinzufügte, je mehr ergänzten sich die Wärme-Schwankungen unter einander zur Aehnlichkeit mit den Gewichts-Schwankungen.

 

Wenn nun aber die Wärme-Schwankungen aller untersuchter Stationen mit den Gewichts-Schwankungen in Kopenhagen übereinstimmten, so mussten sie auch unter einander übereinstimmen. Damit war also die Entdeckung gemacht, dass ich über den ganzen Erdball hin von Tag zu Tag gemeinsame Wärme-Schwankungen erstrecken, die zwar von den örtlichen Verhältnissen u.a. beeinflusst werden, sich aber dennoch mehr oder minder deutlich geltend machen, und dass die 
G r u n d l a g e  aller meteorologischen Schwankungen für den ganzen Erdball eine gemeinsame ist, dass die Sonne selbst keine unveränderliche Wärmemenge ausstrahlt, sondern dass diese während der Umdrehung der Sonne variirt, und zwar von Tag zu Tag ganz bedeutend und dabei mit auffallend  grosser Regelmässigkeit variirt.

 

Ferner war dadurch erwiesen, dass diese Variationen in der von der Sonne ausgestrahlten Wärme von ganz entsprechenden Schwankungen im organischen Wachstum in Kopenhagen und also auch von gleichartigen Wachsthums – Schwankungen über den ganzen Erdball hin, begleitet wäre.

 

Es ergab sich ferner, dass andere meteorologische Erscheinungen auf den verschiedenen Stationen ebenfalls übereinstimmend mit der vor der Sonne ausgehenden Wärme schwankten, dass jedoch dies bezüglich der Electricität und des Magnetismus  nur in verschwindend geringem Grade der Fall war.

 

Diese Untersuchungen veranlassten zugleich die Entdeckung, dass Wiener Zahlreihen, welche die Ozonhaltigkeit der Luft zeigten, in ihren Schwankungen mit den Variationen in der örtlichen  magnetischen Declination übereinstimmten.

 

Ich gelangte also zu dem Ergebniss, dass die hiesige örtliche Wärme zwar mit dem Gewichts-Schwankungen der Kinder übereinstimme, dass jedoch diese Aehnlichkeit weit geringer sei , als die der Gewichts-Schwankungen mir den dadurch entdeckten Schwankungen der von der Sonne ausstrahlenden Wärme.“

 

Da die Ursache  weder im Magnetismus, noch in der Elektricität zu finden sei, so ist Malling geneigt, diese unbekannte, vorläufig mit  X  zu benennende gemeinsame Ursache als „Wachstumskraft“ zu bezeichnen. Es ist möglich, dass sie sich bei fortgesetzten Forschungen als eine solche herausstellen wird;  vorläufig erscheint uns jedoch diese Bezeichnung etwas verfrüht und daher gewagt.

 

Eine erfreuliche Bestätigung seiner Beobachtungen fand Malling in der Schrift von Dr.  R e i n l  in Franzensbad[10]  „über Schwankungen in der Körper-Temperatur der Frauen“, erwiesen durch Erhebungen in der Klinik von Prof.  Hegars[11] in Freiburg  i.B[12].  Dr   R e i n l  mass die Temperatur an 18 Frauen, von denen 8 als gesund zu betrachten waren, und fand wie seine Vorgänger  G o o d m a n n,  J a c o b i  u.A. periodische Schwankungen von 26 bis 28 Tagen, welche er von der Menstruation abhängig glaubte. Bei der Prüfung von Reinl‘s Aufzeichnungen kam Malling zu nachstehendem Ergebnisse:

 

„Die tägliche Summe der allgemeinen Körperwärme der vierzehn Frauen schwankte in voller Uebereinstimmung mit den gleichzeitigen und täglichen Schwankungen in Körpergewicht der Mädchen in hiesiger (Kopenhagener) Anstalt. Der Vergleich konnte nur die Zeit vom 13.November 1883 bis 25. Januar 1884 umfassen, weil vor und nach der Zeit zu wenige der Frauen sich im Hospital befanden.“

 

Gestützt auf die von ihm aufgefundene periodische Zunahme und Abnahme der Sonnenwärme bei oder durch die Umdrehung der Sonne, sowie ferner auf die anscheinend damit übereinstimmende periodische Schwankung im Wachsthum der Kinder (sogenannte „Wachsthumskraft“), gelangt Malling zu der Behauptung (sagen wir lieber  V e r m u t h u n g) : Alle organischen Functionen über den ganzen Erdball befinden sich in ununterbrochenen und gleichmässigen Intensitäts-Schwankungen.

 

Diese Vermuthung ist nicht unwahrscheinlich, aber sie ist noch sehr weit davon entfernt, bewiesen zu sein, und wir hätten gewünscht, dass Malling-Hansen seine schönen, streng wissenschaftlichen Beobachtungen nicht durch allzu leicht begründete Hypothesen in den Augen der ruhigen, objectiven Forscher minderwertig gemacht hätte. Es liegt soviel Tüchtiges, Schönes und Neues in dem, was er der wissenschaftlichen Welt geschenkt hat, dass er dieser Zuthat nicht bedurft hätte, um die allgemeine Aufmerksamkeit seinen Arbeiten zuzuwenden. Malling wird hoffentlich seine vorläufigen Untersuchungen durch ein grösseres Werk ergänzen, in welchem er die gewonnenen Zahlen öffentlich zur Prüfung mittheilt, und damit seine höchst interessanten und höchst wichtigen Forschungen zum Gemeingut der gebildeten Welt macht.

 

 


[1] JMC: Ausschreibung von Jørgen Malling Christensen. Ich habe die originale Orthographie beibehaltet.

[2] JMC: Karl (oder Carl) Heinrich Reclam, 1821-1887, medizinischer Schriftsteller, Polizeiarzt und Professor der Medizin an der Universität Leipzig.  Prof. Reclam verhält sich anerkennend, aber auch ganz kritisch zu Malling-Hansen‘s Forschung und fügt seine eigene Vorbehalte ein.

[3] JMC: Lambert Adolphe Jacques Quetelet, 1796-1874, belgischer Astronom und Statistiker. Einen großen Ruf hatte sich Q. insbesondere durch seine Sozialstatistischen und anthropometrischen Arbeiten erworben. In seiner Anthropometrie entwickelte Q. Körper-Kennzahlen für die „mittleren“ Menschen, von denen der Quetelet-Index (Body-Mass-Index) bis heute verwendet wird.

[4] JMC: Carl von Voit (1831 – 1908) war ein deutscher Physiologe und Ernährungswissenschaftler. Professor der Physiologie und ab 1885 Obermedizinalrat. Carl von Voit gilt als Begründer der modernen Ernährungslähre. Voit war als Lehrer sehr erfolgreich, die Münchener Schule zog weltweit Studierende an. Vor allem die Ernährungswissenschaft der USA erhielt hier ihre frühe Prägung.

[5] JMC: Johann Caspar Lavater, 1741-1801, war ein reformierter Pfarrer, Philosoph und Schriftsteller aus der Schweiz. Lavater wurde durch seine „Physiognomischen Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe“ (4 Bände, 1775-78) bekannt, in denen er Anleitung gab, verschiedene Charaktere anhand der Gesichtszüge und Körperformen zu erkennen. Mit dieser Theorie der Physiognomik trug er wesentlich zur Popularität des Schattenrisses in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Deutschlands bei. Lavater’s Theorie der Physiognomik wurde in der damaligen Zeit lebhaft diskutiert, unter anderem von Lichtenberg, Goethe und Humboldt.

[6] JMC: Eine Centesimalwage (auch: Zentesimalwage) ist eine Art Brückenwage, eine Schnellwage für größere Lasten mit einem kurzen und einem längeren Hebelarm, welcher letztere unter die Brücke greift, auf welcher die zu wägenden Lasten ruhen. Ist das Verhältniß der Hebelarme so, daß 1 Pfund des kürzeren Arms 10 Pfund des längeren in die Balance bringt, so heißen sie Decimal-, ist das Verhältniß wie 1 zu 100, Centimalwage oder Centesimalwage.  Das Hebelsystem ist so bemessen, daß die Last auf jede beliebige Stelle der Brücke gelegt werden kann, ohne daß sich das Verhältnis 1:10 oder 1:100 ändert.

[7] JMC: = Labskaus.

[8] JMC: Johann Georg Varrentrap, 1809 – 1886, deutscher Mediziner und Chefartzt in Frankfurt am Main. Er erwarb sich große Verdienste  als einer der ersten Bahnbrecher für die allgemeine Gesundheitslehre in Deutschland. Durch medizinalstatistische  Arbeiten, besonders über die Kindersterblichkeit, hat er seine hygienischen Forderungen zu unterfüttern versucht.  Nachdem er sein Amt niedergelegt hatte, wirkte er noch für die Einrichtung der Ferienkolonien, welche allgemeine Verbreitung gefunden hat.

[9] JMC: = Ungefär 12 – 19 ° Celsius

[10] JMC: Franzensbad (Frantiskovy Lazne) ist ein berühmter Kurort im westlichen Tschechien, nahe der Stadt Cheb.   Franzensbad, gegründet in 1793, gehörte zu den ersten Moorbädern in Europa und entwickelte sich zu einem Frauenheilbad. Dr. Reinl war ein Deutscher Kurartzt tätig in Franzensbad.

[11] JMC: Ernst Ludwig Alfred Hegar, 1830-1914, ein deutscher Gynäkologe. Nachfolger von Otto Spiegelberg an den Lehrstuhl für Gynäkologie und Geburtshilfe der Universität Freiburg, eine Stellung die er 40 Jahre innehatte.

[12] JMC: Breisgau.

Lambert Adolphe Jacques Quetelet, 1796-1874.
Carl von Voit, 1831 – 1908.
Johann Caspar Lavater, 1741-1801.
Johann Georg Varrentrap, 1809 – 1886.
Ernst Ludwig Alfred Hegar, 1830-1914.
Rasmus Malling-Hansen, 1835-1890.